Es gibt Situationen, in denen keine Literatur und auch keine Erfahrungswerte zur Problemlösung zu Verfügung stehen. Es kann auch vorkommen, dass Berechnungen auf Plausibilität geprüft werden müssen und es ist kein Experte mit einschlägiger Erfahrung da, der die Berechnungen prüfen kann. In diesem Fall ist man darauf angewiesen, die Situation durch eine methodische Schätzung zu prüfen.
Die Methode, nach der ich vorgehe, wurde mir von einem Ingenieur mit jahrzehnte langer Berufserfahrung vermittelt. Diese Methode hat sich in meiner Praxis bewährt und ich möchte sie im folgenden Text an einem Beispiel beschreiben.
Die Methode beruht darauf, dass man der unbekannten Situation bekannte, grundlegende physikalische Gleichungen aus der Fachliteratur gegenüberstellt. Diese physikalischen Gleichungen aus der Fachliteratur sollen die Experimente repräsentieren, welche die vor Störgrößen isolierten physikalischen Effekte beschreiben. In diese Gleichungen werden dann die Zahlenwerte eingesetzt, die der Größenordnung der unbekannten Situation entsprechen.
Schätzungen laufen nach folgenden Schritten ab:
- Frage formulieren.
- Schätzungsgegenstände benennen.
- Interaktionen zwischen den Schätzungsgegenständen benennen.
- Physikalische Gleichungen aufstellen.
- Zahlenwerte der Interaktionen ermitteln.
- Berechnung durchführen.
- Ergebnisse bewerten.
- Schätzung erweitern.
Beispiel: Es soll die Frage geklärt werden, wie schnell ein Radfahrer bergab fahren kann, bevor er im Fahrverhalten instabil wird und stürzt. Um diesen Text nicht zu lang werden zu lassen, sollen nur die physikalischen Effekte der Gewichtskraft und der Luftwiderstandskraft betrachtet werden. Die Kreiselkräfte des Vorderrades und die Reibungskraft zwischen Reifen und Asphalt sollen hier erst einmal nicht berücksichtigt werden.
- Schritt: Frage: Wie schnell ein Radfahrer bergab fahren, bevor Probleme auftreten?
- Schritt: Schätzungsgegenstände: Benennung der wirkenden physikalischen Effekte in der unbekannten Situation.
- Schritt: Interaktion: Ermittlung der Größen, die ins Verhältnis gesetzt werden sollen
– Verhältnis zwischen Luftwiderstandskraft und Gewichtskraft
– Wenn die Luftwiderstandskraft in die Größenordnung der Gewichtskraft kommt, die der Radfahren in seinem Alltag gewohnheitsmäßig beherrschen kann, könnten Probleme auftreten. Hier soll angenommen werden, dass ein Mensch 10% seiner Geschichtskraft, die an ihm plötzlich herumzieht, beherrschen kann. - Schritt: Physikalische Gleichungen
– Luftwiderstandskraft: Fw = cw * 0,5 * rho * A * v²
– Gewichtskraft: Fg = m * g
– Gleichung der Annahme: Fw = 0,1 * Fg - Schritt: Ermittlung der Zahlenwerte, die in der unbekannten Situation vorliegen.
– Masse des Radfahrers mit Fahrrad: m = 80 kg
– Erdbeschleunigung: g = 9,81 m/s²
– Widerstandsbeiwert: cw = 0,6
– Dichte der Luft: rho = 1,2 kg/m³
– Erdbeschleunigung: g = 9,81 m/s²
– Projektionsfläche des Radfahrers A = 0,85 m² - Schritt: Berechnung: Einsetzen der Zahlenwerte in die Gleichungen der physikalischen Effekte.
Fw = Fg
cw * 0,5 * rho * A * v² =0,1 * m * g
v = wurzel((0.1 * m * g)/(cw * 0,5 * rho * A))
v = 16 m/s = 57 km/h - Schritt: Ergebnisse bewerten
Luftwiderstandskraft und Gewichtskraft sind beides starke Effekte. Bei 57 km/h kann davon ausgegangen werden, dass die Luftwiderstandskräfte beherrschbar sind. Sie sind aber nicht zu vernachlässigen. - Schritt: Erweiterung der Schätzung durch weitere physikalische Effekte.
Im nächsten Schritt wird dann zum Beispiel die Kreiselkraft am Vorderrad betrachtet, die bei einer Geschwindigkeit von 57 km/h auftritt. Hier ist zu klären, ob die Kreiselkraft bei der Geschwindigkeit ein starker oder ein schwacher physikalischer Effekt ist. In weiteren Schritten kann dann nacheinander der Karman-Effekt und der Bernoulli-Effekt betrachtet werden.